Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration
Minister Dr. Joachim Stamp
Haroldstr. 4
40213 Düsseldorf
Betreff: Asylsuchende nicht über längere Zeit in Landesaufnahmeeinrichtungen zwangsunterbringen
Sehr geehrter Herr Integrationsminister Dr. Stamp,
wir wenden uns heute aus einem besonderen, dringlichen Anlass an Sie: Wir sind besorgt über aktuelle Planungen in Nordrhein-Westfalen, nach denen Asylsuchende künftig bis zu zwei Jahren in Landesaufnahmeeinrichtungen bleiben und nicht mehr zur Aufnahme in die Kommunen verteilt werden sollen. Mit der Einführung des §47, Abs. 1b des „Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ wurde es den Ländern überlassen, Asylsuchende zu einem Aufenthalt in den Erstaufnahmezentren von bis zu zwei Jahren zwangszuverpflichten. Im Koalitionsvertrag der Landesregierung heißt es explizit, dass in Nordrhein-Westfalen die Landeseinrichtungen zur Entlastung der Kommunen zu nutzen sind, dass die Aufenthaltsdauer dort verlängert werden soll, und dass langfristig nur anerkannte Asylsuchende überhaupt noch den Kommunen zugewiesen werden sollen. Die dauerhafte Ausgrenzung von Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtungen und zentralen Unterbringungseinrichtungen hat weitreichende negative Folgen, sowohl für die betroffenen Flüchtlinge, als auch für Land und Kommunen.
Flüchtlingsfeindliche Haltung wird verstärkt
Es kann nicht im Interesse des Landes NRW sein, Asylsuchende dauerhaft in Großunterkünften außerhalb der Kommunen zu isolieren und sie dadurch vom Kontakt zur hier lebenden Bevölkerung auszuschließen. Vorbehalte und Ängste nehmen zu, wenn statt eines einzelnen Menschen und seines Schicksals nur noch eine anonyme Menge wahrgenommen wird.
Mit der Isolierung von Flüchtlingen, womöglich noch hinter Zäunen und Stacheldraht, sendet die Politik ein überaus problematisches Signal an die Bevölkerung: Flüchtlinge als gesellschaftlich Nichtzugehörige und als Sicherheitsproblem. Die ohnehin besorgniserregenden Vorbehalte eines Teils der Bevölkerung werden dadurch verstärkt und existierende flüchtlingsfeindliche Haltungen bestätigt. Dem gesellschaftlichen Frieden ist damit nicht gedient. Probleme für die Zukunft sind vorprogrammiert, mehr noch: In Großunterkünften leben die Bewohnerinnen und Bewohner geradezu auf dem Präsentierteller für Anfeindungen und Anschläge.
Großunterkünfte für Flüchtlinge sind stigmatisierende Zeichen der Ausgrenzung. Bundesländer, die bis heute auf die Verteilung in die Kommunen und – wo immer möglich auch die Unterbringung in Wohnungen – gesetzt haben, sind auch in dieser Hinsicht gut gefahren.
Bitte führen Sie sich die empirische Erkenntnis der vergangenen Jahrzehnte vor Augen: Ein erheblicher Teil derjenigen, die künftig in der Erstaufnahme langfristig festgehalten werden sollen, wird in Deutschland bleiben. Mit dieser Erkenntnis stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Folgewirkungen einer Isolation – die Frage nach der Integration.
Hilfestellung bei Asylverfahren wird behindert, Integration erschwert
Die Erfahrungen der 1990er und 2000er Jahre haben deutlich gezeigt, dass eine Unterbringung in isolierten Großunterkünften zu erheblichen Problemen führen kann und eine desintegrative Wirkung entfaltet. Im schlimmsten Fall werden, insbesondere auch durch diskriminierende Begleitregelungen wie Residenzpflicht, Bargeldentzug etc. Integrations- und Teilhabechancen, aber auch Selbsthilfefähigkeiten, Produktivität und seelische Gesundheit mit der Dauerunterbringung in Erstaufnahmen erheblich angegriffen oder gar zunichtegemacht.
Erstaufnahmezentren, die lediglich, wie ihr Name es auch nahelegt, der logistischen und administrativen Bewältigung der Erstaufnahmesituation und ersten Orientierung der Ankommenden dienen sollten, werden auf diese Weise zu Desintegrationszentren, in denen Flüchtlingen über lange Zeit hinweg der Zugang zu Schule, Arbeit, neuen Nachbarn und Ehrenamtlichen versperrt wird. Wer zwei Jahre isoliert ist, lernt nur schwer die deutsche Sprache. Der behinderte Aufbau sozialer Kontakte führt unter Umständen sogar dazu, dass Flüchtlinge in ihrem zentralen Anliegen und Recht auf ein faires Asylverfahren keine angemessene Hilfestellung bekommen. Auch der Zugang zu Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten wird durch die Isolation massiv erschwert. Wer kein Geld hat und der Residenzpflicht unterliegt, der wird an vielen Orten keine Chance haben, sich nach rechtsanwaltlicher Vertretung umzuschauen. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte werden nicht in gebotenem Maße Beratung und Hilfestellung in teilweise abgelegenen Unterkünften anbieten können, so dass dem Rechtsschutz nicht genüge getan werden kann. Dieser faktische Ausschluss vom Zugang zu Rechtsmitteln scheint bedauerlicherweise geradezu gewollt. Wer doch rechtlichen Beistand findet und gegen eine Entscheidung vor Gericht zieht, den erwarten bei der aktuellen Überlastung der Verwaltungsgerichte weitere Jahre im Lager.
Die Zahl der Fehlentscheidungen des BAMF ist hoch. Ohne Hilfestellung, ohne Rechtsschutz wird davon auszugehen sein, dass vermehrt auch diejenigen keinen Schutz mehr erhalten, denen er zusteht. Es wird schwieriger Fehlentscheidungen des BAMF zu korrigieren.
Vulnerable Gruppen brauchen besondere Unterstützung
In besonderer Weise inakzeptabel ist die Isolierung für die besonders Schutzbedürftigen. Offenbar sollen auch Minderjährige bzw. Familien mit Kindern nicht von der Dauerunterbringung in der Erstaufnahme ausgenommen werden. Für Kinder und Minderjährige ist das Wohnen in Landesaufnahmeeinrichtungen (EAEs und ZUEs) mit erheblichen Nachteilen für ihr psychisches und physisches Wohl verbunden. Dies widerspricht dem Recht junger Menschen „auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Dies gilt umso mehr, als dass nach wie vor eine flächendeckende kindgerechte Unterbringung nicht gewährleistet ist. Dies ist mit der UN-Kinderrechtskonvention wohl kaum in Einklang zu bringen.
Minderjährige haben in Nordrhein-Westfalen keinen oder nur einen sehr reduzierten Zugang zu Bildung während der Unterbringung in den Landesaufnahmeeinrichtungen, da die Schulpflicht an eine kommunale Zuweisung geknüpft ist. Dies steht im Widerspruch zu Art. 14 der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU). Hiernach müssen Kinder spätestens nach drei Monaten die Möglichkeit des Schulgangs haben: „Der Zugang zum Bildungssystem darf nicht um mehr als drei Monate, nachdem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Minderjährigen oder in seinem Namen gestellt wurde, verzögert werden.“ In Nordrhein-Westfalen gelingt in Ausnahmefällen die Regelbeschulung in einer Schule in der Kommune der Aufnahmeeinrichtung. Für die meisten Kinder fehlt es jedoch generell an Beschulung, manchmal werden stundenweise Freizeitaktivitäten oder erste Deutschkurse angeboten. Dies kann nicht als Erfüllung der oben genannten Vorgaben gesehen werden.
Zu den besonders von den negativen Folgen betroffenen Gruppen gehören auch traumatisierte Menschen. Sie werden im deutschen Asylsystem nach wie vor häufig nicht erkannt und sind damit Lebensbedingungen ausgesetzt, die für sie besonders unzuträglich sind. Die Isolierung hat enorme psychische Wirkung. Traumatische Erfahrungen durch Verfolgung und Flucht lassen sich isoliert in Großlagern kaum überwinden. Es besteht stattdessen die Gefahr, dass die Menschen depressiv, apathisch werden – und es nach einer positiven Entscheidung im Asylverfahren umso schwieriger ist, sie dabei zu unterstützen, auf eigenen Füßen zu stehen und neues Leben zu beginnen.
Wir verkennen nicht die Probleme, die in manchen Kommunen in Nordrhein-Westfalen durch die Aufnahmeverpflichtung für Asylsuchende bestehen. Sie sind aber nicht dadurch lösbar, dass man die Schutzsuchenden länger in einer unzuträglichen und humanitär nicht vertretbaren Aussonderung in der Erstaufnahme festhält. Kommunen müssen verstärkt dabei unterstützt werden, Schutzsuchende menschenwürdig unterzubringen und den Anschluss zu Ehrenamtlichen und den Kontakt zur Bevölkerung zu ermöglichen. Nur so können Berührungsängste abgebaut werden und nur so kann Integration gelingen.
Sehr geehrter Herr Integrationsminister Dr. Stamp, wir bitten Sie dringend, von allen Plänen zur langfristigen Zwangsunterbringung von Schutzsuchenden in der Landesaufnahmeeinrichtungen Abstand zu nehmen und stattdessen ein in die Zukunft weisendes, integratives Konzept zur Flüchtlingsaufnahme anzugehen, das Schutzsuchende angemessen behandelt und der Gesellschaft dienlich ist.