Einer aktuellen Untersuchung zufolge werden Frauen bei der Flucht nach Europa immer häufiger Opfer sexueller Gewalt. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR schlägt Alarm. (Weiterlesen: externer Link)
Quarks & Co.: Warum Syrien stirbt.
Übersichtliche Darstellung eines unübersichtlichen kriegerischen Konflikts.
Flucht und Vertreibung 2015 drastisch gestiegen
Durch Konflikte und Verfolgung erreicht die Zahl der von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen ein trauriges Rekordniveau.
GENF, Schweiz – Ein drastischer Anstieg im letzten Jahr bringt die Gesamtzahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden weltweit auf rund 65 Millionen, wie der heute veröffentlichte statistische UNHCR-Jahresbericht belegt.
Basierend auf Daten von Regierungen, Partnerorganisationen wie dem International Displacement Monitoring Centre und eigenen Erhebungen zeichnet UNHCRs jährlicher Statistikbericht „Global Trends“ ein umfassendes Bild von Fluchtbewegungen. Demnach mussten bis Ende 2015 65,3 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Zwölf Monate zuvor waren es noch 59,5 Millionen Menschen. Damit wurde erstmals die 60-Millionen-Marke überschritten.
Unter den insgesamt 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht sind 3,2 Millionen, die Ende 2015 auf die Entscheidung ihres Asylantrages warteten (die höchste bisher von UNHCR verzeichnete Zahl), 21,3 Millionen Flüchtlinge (1,8 Millionen mehr als im Jahr 2014 und die höchste Zahl seit den frühen 1990er Jahren) sowie 40,8 Millionen Menschen, die gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen und innerhalb ihres Heimatlands auf der Flucht sind. Das bedeutet einen Anstieg von 2,6 Millionen Menschen im Vergleich zu 2014 und ist ebenfalls die höchste Zahl seit Beginn der Erhebungen.
Gemessen an einer Weltbevölkerung von 7,349 Milliarden[1] Menschen ist damit statistisch jeder 113. Mensch entweder asylsuchend, binnenvertrieben oder Flüchtling – ein noch nie dagewesener Höchststand. Insgesamt ist die globale Zahl der Menschen auf der Flucht damit in etwa so groß wie die Einwohnerzahlen von Großbritannien, Frankreich oder Italien.
Seit Mitte der 1990er Jahre haben Flucht und Vertreibung in den meisten Regionen weltweit stetig zugenommen. In den vergangenen fünf Jahren jedoch schnellten die Zahlen rasant nach oben. Dafür gibt es drei Gründe: Flüchtlingssituationen dauern länger an. So gibt es Konflikte in Somalia oder Afghanistan bereits seit jeweils drei, beziehungsweise vier Jahrzehnten. Zudem nehmen neue oder wieder aufflammende Konflikte zu, der größte davon ist der Syrien-Konflikt. Allein in den letzten fünf Jahren gab es eine Vielzahl weiterer Konfliktsituationen, unter anderem im Südsudan, Jemen, Burundi, der Ukraine und der Zentralafrikanischen Republik. Zudem lassen seit Ende des Kalten Krieges effektive und dauerhafte Lösungen immer länger auf sich warten. Während im Jahr 2005 durchschnittlich sechs Menschen pro Minute entwurzelt wurden, sind es heute 24 Menschen pro Minute – das sind statistisch zwei Menschen pro Atemzug.
„Immer mehr Menschen müssen aufgrund von Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen und das allein ist höchst beunruhigend. Doch auch die Faktoren, die Flüchtlinge in Gefahr bringen, steigen um ein Vielfaches”, so UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. „Auf dem Meer verlieren erschreckend viele Menschen ihr Leben, der Landweg ist durch geschlossene Grenzen zunehmend blockiert und in manchen Ländern wird gegen Asyl politisch Stimmung gemacht. Die Bereitschaft von Staaten, nicht nur für Flüchtlinge, sondern im gemeinsamen Interesse der Menschlichkeit zusammenzuarbeiten, wird momentan herausgefordert. Dabei ist es genau dieser einende Geist, der so dringend gebraucht wird.“
Die Hälfte der Flüchtlinge weltweit kommt aus nur drei Ländern …
Unter den Ländern, die im Global Trends Bericht erfasst werden, stechen einige hervor: Mit 4,9 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, 2,7 Millionen aus Afghanistan sowie 1,1 Millionen aus Somalia kommen die Hälfte aller Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat aus nur drei Ländern. Kolumbien hat mit 6,9 Millionen die höchste Zahl von Binnenvertriebenen; Syrien folgt mit 6,6 Millionen, Irak mit 4,4 Millionen Binnenvertriebenen. Die meisten neuen Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes gab es 2015 im Jemen – 2,5 Millionen Menschen sind dort Binnenvertriebene, das entspricht neun Prozent der Bevölkerung.
… und die meisten von ihnen befinden sich im Globalen Süden
Die Bemühungen Europas bei der Aufnahme von rund einer Million Flüchtlinge und Migranten standen 2015 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Bericht zeigt jedoch, dass sich die große Mehrheit der Flüchtlinge außerhalb Europas aufhält. Insgesamt haben 86 Prozent der Flüchtlinge, die 2015 unter dem Mandat von UNHCR standen, in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen Schutz gesucht. Viele dieser Staaten grenzen an Konfliktgebiete. Es sind sogar über 90 Prozent, wenn auch die palästinensischen Flüchtlinge miteinbezogen werden, die unter dem Mandat der Schwesterorganisation UNRWA stehen. Weltweit ist die Türkei mit 2,5 Millionen Flüchtlingen das größte Aufnahmeland. Mit 183 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner hat der Libanon im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land. In Relation zu seiner Wirtschaftskraft war dagegen die Demokratische Republik Kongo das Land mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen (471 Flüchtlinge pro Dollar des BIP).
Asylantragszahlen steigen
2015 war auch ein Rekordjahr, was die Zahl der gestellten Asylanträge in den Industriestaaten betrifft: Insgesamt wurden zwei Millionen Anträge registriert. Hinzu kommen 3,2 Millionen anhängige Verfahren bis Ende des Jahres 2015. Dabei wurden in Deutschland mit 441.900 Anträgen mehr Asylanträge gestellt als in jedem anderen Land. Das ist vor allem auf die Bereitschaft Deutschlands zurückzuführen, Flüchtlinge aufzunehmen, die 2015 über das Mittelmeer nach Europa kamen. Die Vereinigten Staaten verzeichneten die zweithöchste Zahl von Asylanträgen (172.700); viele der Menschen, die dort Asyl beantragten, flohen vor Bandenkriminalität in Zentralamerika. Auch in Schweden (156.000) und Russland (152.500) wurde 2015 eine signifikante Zahl von Asylanträge registriert.
Rund die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder
Laut UNHCR zugänglichen Daten waren 51 Prozent der Flüchtlinge weltweit jünger als 18 Jahre. Besonders beunruhigend ist die hohe Zahl an Kindern, die allein reisten oder von ihren Eltern getrennt waren. Insgesamt wurden weltweit 98.400 Asylanträge von unbegleiteten oder von ihren Eltern getrennten Kindern registriert – ebenfalls der höchste Wert seit UNHCR Aufzeichnungen führt und ein Beleg dafür, dass besonders Kinder von Flucht und Vertreibung betroffen sind.
Keine Rückkehr nach Hause
Trotz der traurigen Rekordzahlen bei Flucht und Vertreibung war die Zahl derer, die in ihre Heimat zurückkehren konnten oder für die eine andere dauerhafte Lösung gefunden werden konnte (lokale Integration im Erstaufnahmeland oder Resettlement) niedrig. So konnten 201.400 Flüchtlinge im vergangenen Jahr in ihre Heimatländer zurückkehren (hauptsächlich nach Afghanistan, den Sudan und Somalia). Das sind mehr als im Berichtsjahr 2014 (126.800), aber verglichen mit den Zahlen der frühen 1990er Jahre weiterhin sehr wenige. 2015 wurden etwa 107.100 Flüchtlinge aus einem Erstzufluchtsland in einem Drittstaat neu angesiedelt (Resettlement) und von insgesamt 30 Ländern aufgenommen – das sind nur 0,66 Prozent der Flüchtlinge, für die UNHCR Unterstützung leistet (2014 waren es 26 Länder, die über Resettlement 105.200 Flüchtlinge aufnahmen). Mindestens 32.000 Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr in Aufnahmeländern eingebürgert. Ein Großteil davon in Kanada und im kleineren Rahmen auch in Frankreich, Belgien, Österreich und anderswo.
Flucht und Vertreibung 2015, geordnet nach Region (vom höchsten bis zum niedrigsten Wert)
1. Naher Osten und Nordafrika
Der Syrien-Konflikt bleibt weiterhin die Hauptursache für Flucht und Vertreibung und dem damit verbundenen Leid. Bis Ende 2015 hatte der Konflikt 4,9 Millionen Menschen ins Exil getrieben und zu Flüchtlingen gemacht und weitere 6,6 Millionen zu Heimatlosen in ihrem eigenen Land. Zusammengezählt entsprächen diese Zahlen in etwa der Hälfte von Syriens Bevölkerung vor Ausbruch der Kampfhandlungen. Der Konflikt im Irak hat bis Ende 2015 4,4 Millionen Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben, 250.000 haben das Land verlassen und sind Flüchtlinge. Der 2015 im Jemen ausgebrochene Bürgerkrieg hatte bei Jahresende 2,5 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Das ist die weltweit größte Fluchtbewegung aufgrund eines neuen Konflikts. Wenn man die 5,2 Millionen palästinensischen Flüchtlinge unter dem Mandat von UNRWA berücksichtigt, sowie die rund 500.000 Binnenvertriebenen in Libyen, sind im Nahen Osten und Nordafrika mehr Menschen auf der Flucht als irgendwo sonst auf der Welt (19,9 Millionen).
2. Sub-Sahara Afrika
Neben der Nahost-Region und Nordafrika gab es 2015 in Sub-Sahara Afrika die höchste Zahl an Fluchtbewegungen und Vertreibungen. Andauernde Konflikte im Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik und Somalia sowie, neue und anhaltende Massenvertreibungen in und aus Ländern wie Nigeria, Burundi, Sudan, der Demokratischen Republik Kongo, Mosambik und anderswo haben bis Ende 2015 insgesamt 18,4 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. In Sub-Sahara Afrika gibt es ungefähr 4,4 Millionen Flüchtlinge – mehr als in jeder anderen Region. Fünf der zehn Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen liegen auf dem afrikanischen Kontinent, angeführt von Äthiopien und gefolgt von Kenia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und dem Tschad.
3. Asien und Pazifikregion
Einer von sechs Flüchtlingen und Binnenvertriebenen weltweit kommt aus der Region Asien und Pazifik. Jeder sechste Schutzsuchende unter vom Mandat von UNHCR ist afghanischer Staatsbürger (2,7 Millionen Menschen); 1,2 Millionen Menschen sind dort zudem Binnenvertriebene. Myanmar ist das zweitgrößte Herkunftsland von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen in der Region Asien und Pazifik mit jeweils 451.800 und 451.000 Menschen. Auch Pakistan und der Iran gehören mit jeweils 1,5 Millionen Flüchtlingen und 979.000 Binnenvertriebenen zu den Hauptherkunftsländern.
4. Nord- und Südamerika
Zunehmende Bandenkriminalität und Gewalt in Zentralamerika haben dazu geführt, dass auf dem amerikanischen Kontinent 2015 die Zahlen zu Flucht und gewaltsamer Vertreibung um 17 Prozent angestiegen sind. So haben insgesamt 109.800 Flüchtlinge und Asylsuchende aus El Salvador, Guatemala und Honduras mehrheitlich in Mexiko oder in den Vereinigten Staaten Zuflucht gesucht. Im Verlauf der letzten drei Jahre hat sich diese Zahl verfünffacht. Mit 6,9 Millionen bleibt Kolumbien weiter das Land mit den meisten Binnenvertriebenen.
5. Europa
Die Situation in der Ukraine, Europas Nähe zu Syrien und dem Irak sowie die Ankünfte von mehr als einer Million Schutzsuchenden über das Mittelmeer, die meisten aus den den zehn größten Herkunftsländern von Flüchtlingen, bestimmten 2015 die Fluchtbewegungen in Europa. Aus europäischen Ländern kamen insgesamt 593.000 Flüchtlinge, die meisten von ihnen aus der Ukraine. Europa beherbergt insgesamt 4,4 Millionen Schutzsuchende, 2,5 Millionen davon in der Türkei. Zahlen der ukrainischen Regierung sprechen von 1,6 Millionen Binnenvertriebenen in der Ukraine. Laut Global Trends Bericht wurden 2015 441.900 Asylanträge in Deutschland verzeichnet, wo die Flüchtlingsbevölkerung mit 316.000 Menschen im Vergleich zum Jahr 2014 um 46 Prozent gestiegen ist.
BDP fordert flächendeckenden Zugang zu psychologischer Betreuung für Geflüchtete
Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2017 weist der BDP auf die erschwerte Lage der Betroffenen hin und mahnt zur Achtung der Menschenrechte
Weltweit befinden sich auch weiterhin so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor – und gleichzeitig verbleiben die meisten innerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen oder in Nachbarstaaten. Nur ein Bruchteil der Geflüchteten gelangt als AsylbewerberInnen in die reichen Industriestaaten*. 2015 und 2016 hat Deutschland viele Geflüchtete aufgenommen. Nur die enorme Unterstützung in der Bevölkerung und eine gemeinsame Anstrengung in den Institutionen machte dies möglich. „Die Tatsache, dass wir aktuell rückläufige Zahlen verzeichnen können, hat nicht mit einem Rückgang der Geflüchteten und abnehmenden Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu tun, sondern damit, dass Geflüchtete an den Landesgrenzen aufgehalten werden und unter menschlich unzumutbaren Zuständen monatelang in Lagern festsitzen“, führt die Präsidiumsbeauftragte für Menschenrechtsfragen des BDP, Eva van Keuk, aus.
Hinzu kommen verschärfte Gesetzeslagen in Deutschland; Abschiebungen sollen im Rahmen des „Integrierten Rückkehrmanagements“ erhöht werden und reibungsloser verlaufen. Geflüchtete mit geringen Chancen auf Asylanerkennung werden nicht mehr kommunal verteilt. Ihre Kinder gehen nicht zur Schule, die Geflüchteten haben nur unter erschwerten Bedingungen Zugang zu Beratung, Rechtsanwälten, medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung. Kann die Rückführung nicht schnell umgesetzt werden, verbleiben Flüchtlinge viele Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung.
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) setzt sich für eine offene Migrationsgesellschaft ein und sieht die zum Teil vernachlässigte Berücksichtigung der internationalen und europäischen Übereinkünfte zu den grundlegenden Menschenrechten bedenklich.
Der BDP fordert:
– Psychologische Gutachten bei der Entscheidung über Aufenthalte weiterhin einbeziehen.
Es ist zu beobachten, dass von Behörden, unter anderem auch dem Bundesamt für Migration und Flucht, zunehmend psychologische Stellungnahmen zurückgewiesen und ärztliche Einschätzungen angefordert werden. Die psychologische Kompetenz ist besonders bei Geflüchteten allerdings unablässig und muss in der Entscheidungsfindung mit einbezogen werden. Drohende Abschiebungen setzen einen Großteil der Geflüchteten unter Dauerstress, verschärfen vorhandene Störungsbilder und lösen schwere, teilweise lebensbedrohliche Krisen aus. Das ist mittels einer umfassenden psychologischen Begleitung vermeidbar.
– Psychisch belastete Geflüchtete müssen grundsätzlich Zugang zu qualifizierter psychologischer Beratung erhalten.
Verschärfte Abschiebungsgesetze reduzieren Ermessensspielräume der Behörden und sorgen für zusätzliche Belastungen bei den Geflüchteten. Es muss gewährleistetet werden, dass in der Durchführung des Asylverfahrens auf psychische Störungen Rücksicht genommen wird und eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfindet. Eine genaue Einzelfallprüfung, wie sie das deutsche Grundgesetz vorschreibt, ist unter den aktuellen Umständen nicht hinreichend möglich. Hierzu gehört auch die Bereitstellung von Beratungsangeboten in den entsprechenden Sprachen der Betroffenen.
– Der Schutz der Familie hat Vorrang.
Beispielsweise syrische Geflüchtete erhalten oftmals nur noch subsidiären Schutz und dürfen für zwei Jahre ihre Familienangehörigen nicht nachholen. Der subsidiäre Aufenthaltstitel verschlechtert bei einzelnen Geflüchteten, deren Familien in Kriegsgebieten zurückbleiben müssen, ihre Gesundheit und Integrationsfähigkeit. Der Schutz der Familie und damit auch Familienzusammenführungen sollen bei der Prüfung Vorrang haben.
– Die UN Kinderrechtskonvention müssen uneingeschränkt Beachtung finden.
Geflüchtete mit geringen Chancen auf Asylanerkennung, aus so genannten sicheren Herkunftsstaaten verbleiben in den zentralen Erstaufnahmestellen und werden nicht mehr kommunal verteilt. Ihre Kinder gehen nicht zur Schule. Der BDP fordert daher auch für Kinder von Geflüchteten aus sicheren Herkunftsstaaten gleiche Gesundheits- und Bildungschancen für ihre Aufenthaltszeit, wie sie jedes andere Kind erhält.
Lasten gerechter verteilen, Chancen besser nutzen
Entwicklungsländer entlasten – Legale Wege der Zuwanderung eröffnen
Freiburg, 19. Juni 2017. Für eine gerechtere Verteilung der Lasten in der Flüchtlingshilfe und mehr legale Wege der Zuwanderung nach Europa spricht sich der Deutsche Caritasverband mit seinem Hilfswerk Caritas international aus. Aus Anlass des Weltflüchtlingstages macht Caritas darauf aufmerksam, dass 84 Prozent der Flüchtlinge von weniger entwickelten Staaten wie beispielsweise dem Libanon oder Äthiopien aufgenommen werden. „Es sind oft die Menschen in armen Ländern, die die größte Solidarität mit den Opfern von Kriegen und Verfolgung zeigen“, so Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Eine Entlastung dieser Länder sei dringend geboten.
Caritas-Präsident Neher spricht sich zudem dafür aus, neben legalen Wegen für Flüchtlinge auch mehr legale Wege der Arbeitsmigration nach Europa zu öffnen. „Ließe Europa mehr Zuwanderung zu, müssten weniger Menschen ihr Leben auf gefährlichen Überfahrten riskieren. Mehr legale Arbeitsmigration wäre aber auch ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Heimatländer von Migranten“, so Neher. Die Summe aller Rücküberweisungen, die großenteils direkt den Lebensunterhalt zahlreicher Familien in Afrika, Asien und Lateinamerika sichern, belief sich im vergangenen Jahr weltweit auf 575 Milliarden Dollar und übersteigt damit die offizielle Entwicklungshilfe um mehr als das Dreifache.
Um die positiven Effekte dieser Transfers systematischer zu nutzen, spricht sich der Deutsche Caritasverband mit seinem Hilfswerk Caritas international dafür aus, eine staatlich geregelte, zeitlich begrenzte Migration zu ermöglichen. „Ein großer Teil der Migranten will etwas Geld verdienen, sich fortbilden und dann zurückkehren. Die europäischen Staaten sollten Wege finden, diese Form der zeitlich begrenzten Arbeitsmigration zu ermöglichen“, so Caritas-Präsident Neher
Der Weltflüchtlingstag wird seit dem Jahr 2001 am 20. Juni im Gedenken an die Flüchtlinge und Vertriebenen begangen. Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen befinden sich weltweit rund 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. 40,4 Millionen von ihnen sind Binnenflüchtlinge, die innerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes Schutz suchen. 22,5 Millionen Menschen haben sich jenseits der Grenzen ihres Heimatlandes geflüchtet. Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, leistet in allen großen Flüchtlingskrisen humanitäre Hilfe. So etwa in Syrien, im Irak und im Südsudan.
Politik muss Armut früher und wirkungsvoller bekämpfen
Berlin, 19. Juni 2017. „Wenn über Jahre eine unvermindert hohe Zahl von Menschen von Armut bedroht ist, so kann uns das nicht gleichgültig sein“, sagt Caritas-Präsident Peter Neher anlässlich der heutigen öffentlichen Anhörung zum 5. Armuts- und Reichtumsbericht. Besonders bedenklich seien die gestiegene Zahl überschuldeter Haushalte und die gestiegene Zahl wohnungsloser Menschen. Auch der nach wie vor bestehende Zusammenhang von sozialer Herkunft, damit schlechten Bildungsmöglichkeiten und Armut belege den dringenden politischen Handlungsbedarf.
„Jedes Kind ist gleich viel wert, die Bildungschancen von Kindern dürfen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen“, kritisiert Neher. Die Handlungsnotwendigkeit bei der Armutsbekämpfung und -prävention sei lange bekannt. Dringend notwendig seien beispielsweise der Ausbau und die bessere Vernetzung niedrigschwelliger präventiver Angebote für arme Familien und ihre Kinder. „Viele dieser Eltern und ihrer Kinder brauchen sozialpädagogische Familienhilfe, Frühe Hilfen sowie Erziehungs- und Lebensberatung, und zwar frühzeitig und wohnortnah“, so Neher. Dringend erforderlich sei zudem der flächendeckende Ausbau der Schulsozialarbeit. „Lernschwache Schüler müssen rechtzeitig und umfassend gefördert werden, bevor sich am Schuljahresende abzeichnet, dass sie eine Klasse wiederholen müssen. Junge Menschen mit schlechten Startchancen brauchen eine Förderung im Übergang zwischen Schule und Beruf“, fordert Neher. Hier müssten die beteiligten staatlichen Akteure, Wohlfahrtspflege und Wirtschaft effektiver zusammenarbeiten; nur so könne wirkungsvolle Hilfe gelingen.
In dieser Legislaturperiode seien bereits wichtige Schritte zur Armutsbekämpfung eingeleitet worden wie beispielsweise die Reform des Unterhaltsvorschusses, die Weiterentwicklung des Wohngeldes und der begonnene Ausbau des sozialen Wohnungsbaus.
Positiv sei auch, dass erstmals von Armut betroffene Menschen von der Bundesregierung angehört wurden, bevor der 5. Armuts- und Reichtumsbericht verfasst wurde. Dies wurde auch im Bericht dokumentiert. „Die Menschen und deren Bedürfnisse zu kennen, ist ganz entscheidend, um notwendige Hilfen zu organisieren. Es fehlt nicht die Erkenntnis, sondern die notwendigen Taten“, appelliert Neher.
Wer wählt warum die AfD?
Eine Analyse der Daten zu den Landtagswahlen 2017
Wer wählt warum die AfD? Eine Antwort auf die Frage gibt der Blick auf die Daten zu den Landtagswahlen 2017 (Quelle: infratest dimap). Dabei konnte die Partei jeweils Ergebnisse von über fünf Prozent verbuchen. Am 26. März waren es 6,2 Prozent der Stimmen (32.935 Wähler) im Saarland, am 7. Mai 5,9 Prozent der Zweitstimmen (86.275 Wähler) in Schleswig-Holstein und am 14. Mai 7,4 Prozent der Zweitstimmen (624.552 Wähler) in Nordrhein-Westfalen. Durch die vergleichende Betrachtung der drei Wahlen lässt sich ein aktuelles Sozialprofil der Wählerschaft ermitteln. Allerdings gilt dies nur eingeschränkt für die westlichen Länder und den gegenwärtigen Zeitpunkt. Denn 2016 konnte die AfD noch bedeutend höhere Gewinne von regelmäßig über 10 Prozent und in Ostdeutschland von über 20 Prozent verbuchen. In Mecklenburg-Vorpommern waren es 20,8 und in Sachsen-Anhalt 24,3 Prozent, aber auch in Baden-Württemberg 15,1, in Berlin 14,2 und in Rheinland-Pfalz 12,6 Prozent der Stimmen. Demnach beziehen sich die Angaben auf eine Phase des Wählerrückgangs.
Als erstes sei der Blick auf das Geschlechterverhältnis geworfen, wobei ein einheitliches Bild besteht: Die Frauen sind unter-, die Männer überrepräsentiert. Das Verhältnis war im Saarland fünf zu acht, in Schleswig-Holstein vier zu sieben und in Nordrhein-Westfalen fünf zu neun. Dabei handelt es sich um eine Besonderheit von „Rechtsparteien“ – bei allen anderen Parteien ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichener. Bezogen auf das Alter fällt demgegenüber auf, dass die früher bestehende Erkenntnis: „Je jünger, desto höhere Anteile von Wählerstimmen für Rechtsaußenparteien“ nicht mehr stimmt. Bei allen drei Landtagswahlen des Jahres 2017 war die Gruppe der 25- bis 34-Jährigen und der 35- bis 44 Jährigen am stärksten bei den Wählern präsent: im Saarland mit sieben bzw. sechs, in Schleswig-Holstein mit neun bzw. sieben und in Nordrhein-Westfalen mit zehn bzw. neun Prozent. Die bis 24-Jährigen und die über 60-Jährigen stimmten demgegenüber nur unterdurchschnittlich für die AfD: im Saarland sechs bzw. vier, in Schleswig-Holstein fünf bzw. vier und in Nordrhein-Westfalen sechs bzw. fünf Prozent.
Was die Bildungsabschlüsse betrifft, so kann schon länger nicht mehr davon gesprochen werden, dass bei den Wählern von „Rechtsparteien“ niedrige Bildung automatisch mit höherer Wahlzustimmung korreliert. Meist sind die mittel Gebildeten die größte, dafür aber die höher Gebildeten die niedrigste Wählergruppe. Dies macht auch der Blick auf die Ergebnisse der genannten Landtagswahlen deutlich. Eine Ausnahme ist dabei das Saarland, wo vier Prozent mit hoher, sieben Prozent mit mittlerer und acht Prozent mit niedriger Schulbildung für die AfD votierten. In Schleswig-Holstein stimmten fünf Prozent der hoch und jeweils sechs Prozent der mittel und niedrig Gebildeten und in Nordrhein-Westfalen sechs Prozent der hoch, neun Prozent der mittel und sieben Prozent der niedrig Gebildeten für die Partei. Die Daten liegen hier dichter zusammen als bei früheren Wahlen. Auch ist der Abstand der höher Gebildeten keineswegs mehr so groß zu den mittel und niedrig Gebildeten. Hier deutet sich eine Annäherung an, die Ansätze zu einer „Normalisierung“ des Wählerverhaltens vermuten lässt.
Interessant sind auch die Angaben zur Berufstätigkeit. Die beiden größten Wählergruppen der AfD sind die Arbeiter und die Arbeitslosen: Im Saarland waren es neun bzw. sieben, in Schleswig-Holstein acht bzw. neun und in Nordrhein-Westfalen 17 bzw. zwölf Prozent der Stimmen. Damit einhergehende Besonderheiten sind offenkundig, dürfen aber nicht zu monokausalen Deutungen führen: Denn weit über achtzig Prozent der Arbeiter und Arbeitslosen wählten demnach nicht die AfD. Angesichts der Angaben zum Alter kann nicht verwundern, dass Rentner unterdurchschnittlich für die Partei votierten. Gleiches gilt für Beamte. Diese wählten die Partei im Saarland mit sechs bzw. fünf, in Schleswig Holstein mit fünf bzw. vier und in Nordrhein-Westfalen mit drei bzw. fünf Prozent. Im Durchschnitt lagen die Angestellten und Selbstständigen im Saarland mit sechs bzw. sieben, in Schleswig-Holstein mit sieben bzw. sechs, aber nicht in Nordrhein-Westfalen mit acht bzw. vier Prozent.
Bezüglich der konfessionellen Bindung gilt für „Rechtsaußenparteien“, dass sie eher von Konfessionslosen gewählt werden. Bei den konfessionsgebundenen Wählern sind Katholiken und Protestanten gleichrangig vertreten. Dies war bei den Landtagswahlen 2017 nicht immer der Fall: im Saarland aber durchaus, wo 5,2 Prozent der katholischen und 4,9 Prozent der evangelischen Wähler, aber 8,5 Prozent der Konfessionslosen für die Partei votierten. In Schleswig-Holstein verhielt es sich indessen so, dass 8,4 Prozent der Katholiken, 5,1 Prozent der Protestanten und 7,9 Prozent der Konfessionslosen ihr Kreuz bei der AfD machten. In Nordrhein-Westfalen stimmten 6,1 Prozent der Katholiken, aber 8,7 Prozent der Protestanten und 9,4 Prozent der Konfessionslosen für die Partei. Der bedeutende Anteil unter den Konfessionslosen ist somit keine ostdeutsche Besonderheit. Ein anderer interessanter Aspekt bezieht sich auf Gewerkschaftsmitglieder. Diese wählten immer leicht stärker AfD als Nicht-Gewerkschaftsmitglieder: im Saarland 6,7 zu 6,1 Prozent, in Schleswig-Holstein 5,4 zu 5,3 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 8,6 zu 7,1 Prozent.
Beachtenswert ist auch die ‚politische‘ Herkunft der Wählerschaft: Der größte Anteil kam im Saarland mit 8.000 von früheren Nichtwählern. Auch jeweils 4.000 ehemalige Anhänger der CDU und der Partei „Die Linke“ stimmten für die AfD. Die SPD verlor 3.000 Wähler an sie. Von der „Grünen“-Wählerschaft hingegen wechselten nur wenige zu der Partei. In Schleswig-Holstein wählten 11.000 ehemalige Nichtwähler die AfD. 45.000 hatten zuvor andere Kleinparteien gewählt. Hier dürfte es sich hauptsächlich um frühere „Piraten“-Stimmen gehandelt haben, hat diese Partei doch erheblich an Wählerstimmen verloren. Ansonsten erhielt die AfD in Schleswig-Holstein 11.000 Wähler von der CDU, 5.000 von der SPD, 3.000 von der SPD und 1.000 von den „Grünen“. In Nordrhein-Westfalen kamen 120.000 von früheren Nichtwählern und 300.000 von anderen Kleinparteien, wobei es sich ebenfalls um frühere „Piraten“-Wähler gehandelt haben dürfte. Ansonsten erhielt die AfD 60.000 Wähler von der SPD, 50.000 von der CDU, 30.000 von der FDP und jeweils 10.000 von den „Grünen“ und „Die Linke“.
Beachtenswert für die Analyse der Motive, nach denen die Wähler sich für die AfD entschieden haben, sind auch diverse Selbsteinschätzungen der Wähler. Im Saarland meinten 42 Prozent der Parteianhänger, sie hätten in ihrem Leben weniger als ihnen zustünde (Alle: 23 Prozent). Hinsichtlich der eigenen wirtschaftlichen Lage gehörten in Schleswig-Holstein fünf Prozent zu den Zufriedenen und neun Prozent zu den Unzufriedenen, in Nordrhein-Westfalen sechs Prozent zu den Zufriedenen und vier Prozent zu den Unzufriedenen. Es lassen sich also hier Auffälligkeiten feststellen. Derart negative Eindrücke und Gefühle führen offenkundig stärker zu einer Wahl der AfD. Indessen gilt für die erstgenannte Angabe, also die eigene wirtschaftliche Situation, dass sie doch unter der Hälfte liegt und die Unterschiede von den Unzufriedenen und Zufriedenen keineswegs besonders hoch sind. Allein daraus lässt sich demnach keine Entscheidung zugunsten der Partei bei den Wählern herleiten. Es muss noch andere Gesichtspunkte geben, die bislang noch nicht genügend Interesse gefunden haben.
Dazu gehören in erster Linie die politischen und sozialen Einstellungen: Diverse Studien haben deutlich gemacht, dass die AfD-Wähler in vielen Fragen weit rechts von der Durchschnittsmeinung in der Gesellschaft stehen. So haben etwa die Befragungen zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, die sicherlich hinsichtlich mancher Items kritisch gesehen werden müssen, in der Gesamtschau in diesem Wählerbereich gezeigt, dass hierzu die höchsten Zustimmungswerte auszumachen waren. Einschlägige Einstellungen kann die Partei dann gut mobilisieren, wenn bestimmte Themen die öffentliche Wahrnehmung dominieren. Dazu gehört allen voran aktuell die „Flüchtlingsfrage“. Bei den Abstimmungen im Saarland und Schleswig-Holstein spielte sie nur eine geringe, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen eine größere Rolle. Entsprechend verhielt es sich auch bei den Wahlergebnissen. Bislang ist die Forschung allerdings Zusammenhang von „Einstellungen“ und „Protestverhalten“ mit einer Wahlentscheidung für die AfD noch nicht genauer nachgegangen.
Abschließend soll hier noch eingeschätzt werden, was die vorstehenden Erkenntnisse für die Perspektiven der Partei bedeuten. Es lässt sich zunächst ein Rückgang der Zustimmungswerte konstatieren. Die AfD konnte ihren Höhenflug aus dem Vorjahr nicht fortsetzen und sich auch nicht auf einer Ebene von über 10 Prozent der Stimmen stabilisieren. Gleichwohl gelang es ihr, jeweils eindeutig mit mehr als fünf Prozent in die Landtage einzuziehen. Dies geschah auch während eines Bedeutungsverlustes „ihres“ hauptsächlichen „Migrations“-Themas in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch führten die absonderlich bis heftig zu bezeichnenden innerparteilichen Konflikte nicht zu einem erkennbaren Rückgang der Wählerstimmen. Damit spricht einiges für eine Etablierung als Wahlpartei, die bundesweit gegenwärtig wie längerfristig mit zwischen fünf und zehn Prozent der Stimmen rechnen kann. Die Anteile in den östlichen Bundesländern sind dabei erkennbar höher als in den westlichen Bundesländern. Gerade auch ihr Bestehen in den westlichen Bundesländern spricht aber für eine Stabilisierung.
Autor: Armin Pfahl-Traughber für bpb.de
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