Einmal in jeder Legislaturperiode muss die Landesregierung einen Sozialbericht veröffentlichen. Das ist jetzt geschehen. Das Ergebnis: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter geöffnet. Fragen an den Kölner Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Johannes Hensel.
Dr. Frank Joh. Hensel: Unterschieden wird im Sozialbericht 2016 zwischen Einkommensreichen und Vermögensreichen. Zur ersten Gruppe gehören danach etwas mehr als fünf Prozent der Bevölkerung, zur zweiten 15 Prozent. Einkommensarm sind 16 Prozent der Bewohner NRWs. Und ganz ohne Vermögen stehen 19 Prozent da. Ganz ohne Vermögen – das bedeutet, dass unvorhergesehene Kosten nicht gestemmt werden können. Die Waschmaschine ist kaputt, doch für Ersatz fehlt das Geld. Oder mal eben Blumen kaufen, ins Kino oder Schwimmbad gehen – all das ist oft nicht möglich. Die Menschen fühlen sich abgehängt vom Rest der Bevölkerung.
Caritas in NRW: Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen?
Dr. Frank Joh. Hensel: Kinder und Jugendliche trifft es am härtesten. In NRW lebt jedes fünfte Kind in einem einkommensarmen Haushalt. Das bedeutet meist, dass die Eltern arbeitslos sind und von Sozialleistungen wie Hartz IV leben. Oder das Einkommen ist so gering, dass es durch staatliche Leistungen erst auf Grundsicherungsniveau aufgestockt werden muss. Da häufig die Unterhaltszahlungen des Partners ausbleiben, ist das Armutsrisiko für Alleinerziehende beträchtlich erhöht. Und auch diejenigen mit keinem oder einem geringen Bildungsabschluss sind überdurchschnittlich häufig arm.
Caritas in NRW: Trotz der gesamtwirtschaftlich guten Lage ist die Einkommensarmut in Nordrhein-Westfalen gegenüber 2012 und 2007 weiter gestiegen. Woran liegt das?
Dr. Frank Joh. Hensel: Von der guten Konjunktur haben in erster Linie diejenigen profitiert, die sich in einem festen Anstellungsverhältnis mit einem ordentlichen Tariflohn befinden. Denjenigen, die im Niedriglohnbereich tätig sind, kommt der Mindestlohn zwar zugute. Er reicht aber nicht, um beispielsweise die hohen Mieten in den Ballungsgebieten zahlen zu können. Damit werden diese Menschen aus vielen interessanten Wohngegenden quasi herausgedrängt. In den großen Städten mischen sich Arm und Reich immer weniger – die Menschen erleben ihre Ausgrenzung jeden Tag hautnah. Viel Armut schafft auch viel Unmut.
Caritas in NRW: Sie selbst haben bei der Vorstellung des Sozialberichts 2012 von der Politik mehr Initiativen zur Eindämmung der Armut verlangt. Was hat sich seitdem getan?
Dr. Frank Joh. Hensel: Der Blick zurück ist absolut ernüchternd. Die Situation ist stabil schlecht. Modellvorhaben wie „Kein Kind zurücklassen“ oder Projekte zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit sind zwar gute Ansätze, aber viel zu schwach ausgestattet, um bald einmal zu messbaren und durchgreifenden Erfolgen zu führen. Allzu häufig wird angenommen, die Menschen seien für ihre Armut selbst verantwortlich und könnten ihr auch nur selbst entkommen. Das ist jedoch ein Trugschluss. Armut ist eben kein individueller Zufall, sondern hat Gründe, die mit politischer Entschiedenheit bekämpft werden müssen. Die Tatsache, dass Kinder für so viele Väter und Mütter ein Armutsrisiko bedeuten, ließe sich ändern.
Caritas in NRW: Armut bedeutet nicht allein materielle Armut. Arm ist, wer nicht am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilhaben kann. Die Wohlfahrtsverbände haben immer wieder mehr Engagement und Unterstützung für Familien sowie Kinder und Jugendliche gefordert. Bei Bildung und Sozialausgaben dürfe nicht gespart werden. Ist das Land auf dem richtigen Weg?
Dr. Frank Joh. Hensel: Bei der Landesregierung wächst zwar das Verständnis dafür, dass früher im Leben angesetzt werden muss, um Armut zu verhindern. Trotz dieser Erkenntnis wird aber der Ausbau der Frühen Hilfen für junge Familien nicht energisch vorangetrieben. Auch bei der dringend erforderlichen Stärkung des als Lern- und Lebensraum zu verstehenden Schulbereichs wird die Finanzierung der offenen Ganztagsschulen zu großen Teilen den freiwilligen Leistungen der Kommunen überlassen. Kommunen in der Haushaltssicherung sind dazu gar nicht in der Lage. Da ergeben sich regional erhebliche Unterschiede, die alles andere als Chancengleichheit versprechen.
Caritas in NRW: Haben die Wohlfahrtsverbände konkrete Maßnahmen und Verbesserungsvorschläge zur Bekämpfung der Armut?
Dr. Frank Joh. Hensel: Auch die Verbesserungsvorschläge sind seit Jahren stabil, obwohl sie einfach umzusetzen wären, wenn die politische Willenskraft dafür ausreichen würde. Die Forderungen greifen Bedürfnisse der Betroffenen direkt auf
- Kinder und Jugendliche können kostenfrei städtische Einrichtungen besuchen, und die Fahrtkosten dorthin entfallen.
- Mittagessen in der Kita und den Schulen ist Teilhabe und damit kostenfrei.
- Der Regelsatz wird so berechnet, dass er auch zum Teilhaben reicht.
- Informationen und Dokumente von Verwaltungen und Jobcentern sind verständlich – Unterstützungen bei der Beantragung der zustehenden Leistungen sind selbstverständlich.
- Etwas langwieriger ist die Verwirklichung der Forderung nach bezahlbarem Wohnraum, aber auch dieses Problem ist durch gezielte Förderpolitik anzugehen.
Es braucht mehr Mut und Willen zur Armutsbekämpfung, dann lässt sich einiges ändern.
Fragen von Markus Lahrmann
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Caritas NRW. Quelle: http://www.caritas-nrw.de/nachrichten/2016/viel-armut-schafft-unmut