Ist die deutsche Gesellschaft gespalten? Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass die in Deutschland lebenden Menschen sehr ähnliche Vorstellungen davon haben, was einen guten Bürger ausmacht.
Unterschiedliche Einstellungen hängen besonders vom Alter und Wohnort ab – weniger hingegen vom Migrationshintergrund.
Gütersloh 11.12.2018. Für die große Mehrheit aller in Deutschland lebenden Menschen kann jeder ein guter Bürger sein – unabhängig davon, ob er in Deutschland oder im Ausland geboren ist. Zudem herrscht bei 90 Prozent der Menschen Einigkeit darüber, was einen guten Bürger ausmacht. Zwar gibt es unterschiedliche Gewichtungen zwischen verschiedenen Gruppen – ob jemand ausländische Wurzeln hat oder nicht, spielt allerdings eine vergleichsweise geringe Rolle. Viel größer ist hingegen der Unterschied zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland sowie zwischen den Generationen. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung auf der Grundlage einer repräsentativen Untersuchung von Kantar Emnid. Anhand von 15 Eigenschaften wurde gemessen, wie wichtig den Menschen verschiedene Bürgertugenden sind.
Die höchste Zustimmung erhielten die Antworten „Gesetze befolgen“, „Respekt vor älteren Menschen zeigen“ und „eigenverantwortlich für seinen Lebensunterhalt sorgen“ mit jeweils 98 Prozent. Am seltensten sprachen sich die Befragten dafür aus „Bereitschaft zum Militärdienst“ (48 Prozent) und „seinen Stolz auf Deutschland zeigen“ (61 Prozent) als Bürgertugenden zu benennen. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, sieht die Studienergebnisse angesichts der aktuellen Debatte um weltanschauliche Gräben in der deutschen Gesellschaft als ermutigend: „Der Eindruck großer gesellschaftlicher Spaltung täuscht. Die allermeisten Menschen in Deutschland teilen grundsätzliche Ansichten darüber, welche Haltungen und Handlungen für die Bürger wünschenswert sind. Darauf kann man ein gutes gesellschaftliches Miteinander aufbauen, gerade in einem Einwanderungsland wie Deutschland.“
Im Ausland Geborene haben häufig wertkonservativere Einstellungen
Bei den Menschen mit ausländischen Wurzeln gibt es Unterschiede zwischen den im Ausland und den in Deutschland Geborenen. Zwar teilen beide Gruppen ihre stärkere Präferenz für Respekt vor Älteren und gegenüber Anhängern anderer Religionen im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund. Jedoch sprechen sich im Ausland geborene Migranten häufiger dafür aus, im eigenen Umfeld auf Recht und Ordnung zu achten, Stolz auf Deutschland zu zeigen und bereit zum Militärdienst zu sein. In Deutschland geborene Migranten unterscheiden sich davon und bewerten diese Punkte ähnlich wie die übrige Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Dazu Dräger: „In Deutschland aufzuwachsen, hat eine große integrative Kraft – unabhängig von den Wurzeln der eigenen Eltern.“
Bei Vermittlung von Bürgersinn kommt es auf Familien und Schulen an
Wichtige Orte der Vermittlung von Bürgersinn sind für die allermeisten die Familien (93 Prozent) und Schule (88 Prozent). Kirchen, Religionsgemeinschaften und Medien messen hingegen jeweils rund 50 Prozent der Befragten eine große Bedeutung zu. Menschen ohne Migrationshintergrund sehen in Vereinen (64 Prozent) wichtige Vermittler von Bürgertugenden – dies wird von Menschen mit Migrationshintergrund (52 Prozent) seltener so gesehen. Dieser Unterschied ist bei der Berücksichtigung des Wohnorts ähnlich groß: 64 Prozent der Bürger in Westdeutschland sehen Vereine als wichtiger an als die in Ostdeutschland (56 Prozent).
Zwischen jüngeren und älteren Befragten sind die Unterschiede beispielsweise mit Blick auf die Toleranz gegenüber Mitmenschen und auf den Respekt vor anderen Religionen auffällig. Das deutet für Dräger darauf hin, dass Schwierigkeiten im Umgang mit der durch Migration gestiegenen Vielfalt Ausdruck unterschiedlicher Generationserfahrungen sind: So belegt der Mikrozensus, dass der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in der jüngeren Generation wesentlich höher ist als bei den Älteren. Vielfalt ist für die jungen Menschen in Deutschland eher gelebte Normalität als für die älteren.
Statistische Analysen der prägnanten Unterschiede in den Gewichtungen zwischen Befragten in Ost und West zeigen, dass sie nicht direkt mit der sozioökonomischen Lage zusammenhängen. Sie lassen eher auf verschiedene – historisch bedingte – Erfahrungen im Miteinander von Staat und Bürger schließen. Unterm Strich bleibe aber, so Dräger, ein bemerkenswerter Konsens im Land über Rechte und Pflichten von Bürgern über alle ethnischen, sozialen und generationellen Grenzen hinweg.
Zusatzinformationen
Die Studie „Bürgersinn in der Einwanderungsgesellschaft – Was Menschen in Deutschland unter einem guten Bürger verstehen“ untersucht, wie stark das Verständnis von einem guten Bürger in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen voneinander abweicht beziehungsweise sich ähnelt. Die Ergebnisse der Studie basieren auf einer Umfrage, die im Juli und August 2018 durchgeführt wurde. Hierfür wurden 2.059 deutschsprachige Personen (1.168 mit Migrationshintergrund) ab 14 Jahren aus dem gesamten Bundesgebiet nach ihren Einschätzungen rund um das Thema Bürgersinn befragt. Die Auswertung der vorliegenden Umfragedaten basiert auf einer Repräsentativgewichtung einer disproportional angelegten Stichprobe. Die Gewichtung stellt sicher, dass die der Auswertung zugrundeliegende Stichprobe in ihrer Zusammensetzung der Struktur der Grundgesamtheit der Bevölkerung entspricht. Damit sind die Untersuchungsergebnisse repräsentativ.
Experte der Bertelsmann Stiftung: Dr. Orkan Kösemen,
Telefon: 0 52 41 81 81-429
E-Mail: orkan.koesemen@bertelsmann-stiftung.de
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